2. Der Weg vom „ich“ zum „ICH“

Du bist nicht das kleine zerbrechliche Etwas, das für eine kurze Zeit auf Erden wohnt!

Als ich das erste Mal in den Kursübungen las: „Ich bin das Licht der Welt“, hatte ich ein ambivalentes Gefühl dabei. Einerseits war ich froh, dass einmal von „mir“ etwas Schönes gesagt wird, andererseits war mir diese Formulierung doch etwas zu steil. Mir hätte schon genügt, einfach gesagt zu bekommen, dass ich eben besser wäre als die anderen. Aber bald war das etwas ungemütliche Gefühl vergessen, und ich wollte gerne glauben, was der Kurs vorgab:
Das von allen und allem abgetrennte Staubkörnchen glaubte nun tatsächlich, das Licht der Welt zu sein.

Im Laufe der Zeit aber kehrte das ungemütliche Gefühl, das ich mit diesem Gedanken verband, zurück. Solange das Ego sich noch ganz intakt und unbedroht fühlte, fühlte ich mich sehr gut. Doch dann – man könnte sagen, als der Kurs begann, Wirkung zu zeigen – fühlte ich mich dabei immer schlechter.
Jetzt glaubte ich, dass der Kurs für dieses schlechte Gefühl verantwortlich sei und war einige Zeit nicht sehr gut auf ihn zu sprechen. Sogar wenn es mir gerade gut ging, ging es mir nicht wirklich gut – dann hatte ich nämlich ein schlechtes Gewissen wegen all der anderen, denen es nicht so gut ging.

Was soll ich sagen… dass man diese ganze Umwandlung überhaupt überlebt, ist eigentlich ein Wunder – doch man überlebt. Wie könnte auch das „Licht der Welt“ sterben?

Der Kreuzweg scheint manchmal langwierig und schwierig, schmerzensreich und elend zu sein. Sogar Jesus war dabei keine Ausnahme. Und dennoch verlor ER das Vertrauen in SEINEN VATER nicht.
Bei mir war es so, dass das Vertrauen wohl häufig schwankte, doch irgendwie kam es immer wieder zurück. Außerdem gab es so manche Highlights, die mich davon abhielten, aufzugeben, Phasen von Verständnis und Glück, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Die Lektionen der Vergebung übte ich fleißig und so oft es ging. Mir schien es, als ob ich nicht sehr erfolgreich dabei wäre, doch allmählich änderte sich in meinem Geist einiges. Obwohl ich meiner Meinung nach ein besonders hartnäckiges Exemplar war, ging es dennoch voran. Am meisten dann, wenn ich überzeugt war, dass sich überhaupt nichts zu ändern schien, oder wenn ich sogar glaubte, nur Rückschläge zu erleiden.

Doch oh Wunder, die Umwandlung ging doch vor sich – zwar nur millimeterweise – aber sie geschah! Ich hatte zwar anfänglich eher den Eindruck, dass nur das Ego immer größer wurde, doch das war vermutlich der Tatsache zuzuschreiben, dass ich es vorher überhaupt nicht bemerkt hatte.

Als ich es zu bemerken begann, wurde mir ganz mulmig zumute, denn es schien weitaus stärker zu sein als ich. Das Ego konnte praktisch mit mir machen, was es wollte. Ich war nur sein Spielball. Doch dieser Spielball verfügte auf wundervolle Weise über ein unglaubliches Durchhaltevermögen, sodass ich bald nicht mehr übersehen konnte, dass ich bei meinem Unternehmen, dieses Ungeheuer – Ego oder auch Angst genannt – bezwingen zu müssen, nicht allein war.
Da war eine Kraft in mir, die sich zu meinem Erstaunen von den ganzen Muskelspielen und Spektakeln, die das Ego im Laufe der Zeit aufführte, nicht beeindrucken ließ. Manchmal schien es mir so, als würde das Ego immer weniger Wirkung bei mir zeitigen. Ich erholte mich immer rascher von seinen wütenden Angriffen. Meine Situation mochte manchmal vielleicht sehr schlecht aussehen, doch kurz darauf sah man mir nichts mehr davon an.

So ging die Umwandlung nun immer rascher vor sich. Ich erkannte das Ego immer früher, so geschickt es sich auch zu tarnen verstand. Und je klarer ich das Ego zu erkennen begann, desto mehr spürte ich auch, dass diese Kraft, die ich immer deutlicher wahrnahm, aus einer Quelle kam, die ich zwar nicht kannte, die aber doch irgendwo in mir selbst lag.
Anders gesagt – ich begann mich immer mehr mit dieser Kraft zu identifizieren!
Mit dem Ego, das ich solange zu meinem Freund und Ratgeber gemacht hatte, wollte ich nun nichts mehr zu tun haben. Ich wollte seinen Befehlen nicht mehr gehorchen – und ich wollte seine Urteile über mich und die Welt nicht mehr.

Ich wollte nun einer anderen STIMME zuhören, und IHR Urteil über alles und alle, die mir begegneten, annehmen. Und dieses lautet so:

Der SOHN GOTTES ist frei von jeder Sünde und Schuld.
Und du bist der SOHN GOTTES, gemeinsam mit deinen Brüdern.

Äußerlich war an mir keine besondere Veränderung zu bemerken. Die körperliche Erscheinung war immer noch dieselbe. Ich war immer noch „ich“. Doch war da auch etwas ANDERES ins Spiel gekommen, DAS bald auch für andere wahrnehmbar werden sollte. Mein „neuer“ FREUND und RATGEBER leitete nun immer mehr mein Leben. Alles wurde leichter – aber wiederum äußerlich nicht unbedingt wahrnehmbar. Ich war jetzt nicht mehr so auf die Erreichung bestimmter äußerer Situationen aus, sondern widmete meine Aufmerksamkeit eher dem Inneren:

Ich wollte die Tuchfühlung mit dieser meiner „neuen“ STIMME nicht verlieren.
Ich spürte einfach: Nur wenn ich dieser meiner STIMME zuhörte, fühlte sich alles gut und richtig an.
Wenn ich aber das Ego zu Wort kommen ließ – ob aus Müdigkeit, Gewohnheit, Unaufmerksamkeit – oder einfach nur, weil ich mir dachte, dass ja eigentlich nichts passieren könne – ja, dann passierte es!
Und es fühlte sich einfach ganz schrecklich an, kaum zu ertragen.
Sehr schnell machte ich dann jeweils einen kleinen Schritt zurück, ging in mich, bis ich die mir nun schon vertraute STIMME wieder vernahm, und alles wieder gut war.

Die STIMME drängte mich sanft in eine Richtung, welche sich für mich besonders ungewohnt anfühlte: SIE wollte, dass ich lerne, dass ich gleich bin wie alle meine Brüder.

G L E I C H – nicht besser oder schlechter.

Ich musste lernen, dass die Situationen, in denen ich mich zu befinden schien, nicht besser oder schlechter waren, als die der anderen – dass ich in keiner privilegierten oder schlechteren Position war, als jeder meiner Brüder.
Ich musste lernen, dass alle Situationen hier bedeutungslos sind – weder gut noch schlecht – nur unwirklich.

Diese Lektion des Gleichseins mit allen fiel mir scheinbar besonders schwer:
Früher war es mir vor allem wichtig gewesen, dass es mir gut ging – jetzt bemerkte ich, dass es mir nur gut ging, wenn ich wusste, dass es allen gut geht.
Früher wollte ich ein schönes Leben haben – jetzt erkannte ich, dass ich nur ein schönes Leben haben konnte, wenn ich wusste, dass alle anderen auch ein schönes Leben haben.
Doch wie sollte das möglich sein? Wie sollte ich allein das bewerkstelligen?

Aber ich war ja nicht mehr allein! Zwar konnte mir nichts und niemand in der Welt bei dieser schwierigen Lektion behilflich sein – aber ich hörte ja nun meine STIMME.
SIE konnte meinem nun schon etwas bereitwilliger zuhörenden Geist erzählen, WAS und WER ich wirklich bin – und dass alle meine Brüder genauso sind wie ich. Endlich war ich bereit geworden, meine eigene Erlösung und die Erlösung der Welt anzunehmen.

Auf einmal verstand ich, wieso Jesus sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“
Jetzt war mir klar, wieso ER überhaupt das Wort „ich“ verwendete und von „seinem Vater im Himmel“ sprach. Vorher hatte ich immer geglaubt, ER hätte nur sich damit gemeint und nicht uns alle.
Jetzt war mir bewusst geworden, dass ER sich immer als vollkommen gleich mit allen seinen Brüdern sah und sieht. Wenn ER „Ich“ sagte, so meinte er „Wir alle“. Deswegen hat GOTT nur EINEN SOHN. Wir alle sind dieser EINZIGE SOHN. Nun konnte ich wirklich voller Überzeugung sagen und empfinden – und noch mehr als das – jetzt wusste ich:

ICH bin das Licht der Welt.
ICH bin der SOHN GOTTES in Ewigkeit.
Das ist die reine Wahrheit.

Und damit nicht wieder ein Missverständnis entsteht, sage ich im gleichen Atemzug:

Wir alle sind das Licht der Welt.
Wir alle sind der SOHN GOTTES in Ewigkeit.
Denn ICH bin wie IHR und IHR seid wie ICH.
Deshalb sind WIR wahrhaft EINS!

Es ist in der Tat nicht Hochmut, der diese mächtigen Worte spricht. Es ist wahre Demut, die nur anerkennt, was GOTT erschaffen hat, und über alle Illusionen einfach hinwegsieht.

Meine wundervollen Brüder – sagen wir diese Wahrheit oft, aber nicht für uns allein und isoliert. Sagen wir es vielmehr zugleich für alle unseren Brüder, zu unser aller Erlösung.

Denn dies ist der Fanfarenklang, der ununterbrochen um die ganze Welt erschallt,
um alle, die noch schlafen, sanft aber bestimmt zu wecken.

 

Gut zum Nachlesen: Übungsbuch S.307-312, Lektionen 162-164