15. Der letzte Vorhang

Die Vergebung, die der Kurs lehrt, kann man mit dem Fallen des letzten Vorhanges am Ende eines Theaterstückes vergleichen.
 Bevor du dich am Abend zu Bett begibst, stelle dir den ganzen Tag, den du erlebt hast, als Theaterstück vor:
Alle Schauspieler haben ihre Rollen bravourös gespielt. Nach der letzten Szene fällt der Vorhang und das Publikum klatscht Beifall.
 Nun geht der Vorhang noch einmal hoch, und alle Schauspieler zeigen sich noch einmal. Sie sind zwar immer noch in ihren Kostümen, doch haben sie ihre Rollen bereits abgelegt. Alle reichen sich fröhlich die Hände und verbeugen sich noch einige Male vor dem Publikum.
Dann fällt der letzte Vorhang, und alle feiern anschließend gemeinsam ihren gelungenen Auftritt.
Genau wie alle anderen hast auch du deine Rolle perfekt gespielt. Und nun, da die Show vorbei ist, denke nicht mehr über das Spielgeschehen nach, sondern geh auch mit den anderen feiern.

So kannst du wahrlich ruhig einschlafen,
denn du hast den Tag vergeben.

Am nächsten Morgen geht es dann wieder weiter. Alle kommen wieder in ihren Kostümen und spielen wieder ihre Rollen. Und wenn du dich an diesem Tag ärgerst, wütend oder beleidigt bist über einen oder mehrere deiner Mitspieler, wenn du verletzt oder bloßgestellt wirst, dann erinnere dich vielleicht an den letzten Vorhang:
Am Abend werdet ihr alle wieder eure Rollen ablegen, und was dir in dem Theaterstück angetan wurde, ist nie wirklich geschehen.

Die Erinnerung an den letzten Vorhang wird dir ermöglichen, das, was dir zu widerfahren scheint, als harmloses Spiel zu sehen. Dann wirst du deinen Mitspielern nicht mehr vorhalten, was sich nach dem letzten Vorhang als reines Spiel herausstellen wird, welches mit dem wirklichen Leben überhaupt nichts zu tun hat.

Vielleicht fällt dir der letzte Vorhang bald öfter am Tage ein, und du bemerkst, dass du nach jeder Szene den Vorhang fallen lassen kannst, um dich wieder an das zu erinnern, was wirklich ist – wer du wirklich bist, und wer deine Mitspieler wirklich sind.

Wenn du bald mehr Übung im Vorhang-fallen-lassen hast, wirst du nicht mehr so sehr im Spiel gefangen sein, und deine Angst vor dem, was im Theaterstück passiert, wird vergehen.
 Es geht also darum, dass du die Rollen, welche du oder deine Mitspieler verkörpern, als solche erkennst – und sie nicht für wirklich hältst:
Die Rolle eines Kranken oder Notleidenden wirst du nicht mehr als Fakt nehmen, sondern dich daran erinnern, dass dein Mitspieler nach dem letzten Vorhang immer quietschfidel und lustig umherhüpft, und ihm keinerlei Krankheit oder Not mehr anhaftet.
Einem Mitspieler, welcher dir in seiner Rolle eine Torte ins Gesicht zu werfen hat, wirst du nicht ernsthaft grollen.

Mit der Zeit werden dich ungute Szenen im Stück nicht mehr ängstigen, denn sobald du dir bewusst wirst, dass nach dem letzten Vorhang alle gemeinsam feiern, weißt du, dass jede noch so ernst erscheinende Szene eigentlich harmlos ist, da es hier ja nicht um das wirkliche LEBEN geht.

Wann aber geht es dann um das wirkliche LEBEN? Gibt es überhaupt ein wirkliches LEBEN nach dem Theaterstück?

Um das wirkliche LEBEN brauchst du dir keine Sorgen zu machen. DAS gibt es wirklich, und sogar das erhebendste Theaterstück kann dir nur einen Hauch DESSEN vermitteln. Alles, was jemals in deinem Theaterstück gespielt wurde, wird vor dem wirklichen LEBEN verblassen, denn DORT hört das Feiern niemals auf. DORT brauchst du nicht mehr zu spielen, DORT BIST du! Und alle deine Mitspieler SIND DORT mit dir gemeinsam!

Hier geht es also darum, einmal wirklich den letzten Vorhang fallen zu lassen und zu vergeben. Einmal wirklich all deine Mitspieler im kleinen persönlichen und im großen Welttheater als Brüder zu erkennen und dann mit ihnen feiern zu gehen statt beleidigt auf der Bühne zu bleiben und schmollend dort zu übernachten, weil du dich über eine Szene im Stück gekränkt hast.

Nur so lernst du Illusionen zu vergeben.
Und nur darum geht es in diesem Theater.